Sonntag, 11. Juni 2017

2017 Bieler Lauftage - 100km - Wenn der Mensch Pläne schmiedet


Bisher verlief mein sportliches Jahr eher schitter.
 
-        Wegen einer Muskelverspannung am Gluteus Medius musste ich 5 Wochen mit dem Training aussetzen und konnte nicht am Innsbrucker Trailrun und am Bieler Ultra um den See mitlaufen
-         Heuschnupfen wie seit 20 Jahren nicht mehr
-         Meine Zähne zerbröseln, ich hab eine schmerzhafte Rettungsaktion nach der anderen  bei meiner Zahnärztin
 
Dennoch ging es guten Mutes nach Biel. Lief ich bisher immer kopflos den Leuten nach, hatte ich dieses Jahr einen Plan.
Der Plan hiess Jean-François, ein Läuferkollege aus den Running Ferien in Giverola. Sein Ziel war es, unter 11 Stunden im Ziel anzukommen und am Bieler Ultra über 50km ist sein Plan voll aufgegangen. Wir wollten mit einem Schnitt von 6:30 pro Kilometer laufen.
 
Ich traf ihn und fünf andere Verrückte vor dem Start:
-         Marc Aschmann, mein Irontrail Kumpel, der 12 Stunden anvisierte
-        Stefan Keller, auch ein Irontrail Bekannter, der von einem 400 km Lauf in Afrika kam und ebenfalls in 12 Stunden laufen wollte
-        Carmela und Hansjörg, ebenfalls Irontrail Läufer, die es gemütlich nehmen wollten
-        Gianni, der letztes Jahr neben mir in Kirchberg auf einem Schragen lag und auch eine Zwangspause wegen Magenproblemen einlegen musste. Er wollte mit einem 05:30er Schnitt loslaufen und stand weiter vorne ein.

 
Es stimmte alles, die Temperatur war perfekt fürs Laufen und es blieb trocken. Es war Vollmond, leider war es meist zu bewölkt.
 
Phase 1: Alles unter Kontrolle
Wir liefen also los, ich zügelte meine Pferde, was mir aussergewöhnlich schwer fiel.
Ich musste Leute ziehen lassen, mit denen ich gerne weitergeschwatzt hätte. Doch Jean-François lief konsequent und wir hielten die Pace strikt ein.
 
Nach Aarberg, so um km20 verkrampfte sich mein Magen, das ging vorbei, wie auch andere Beschwerden. Plötzlich tat das Knie weh, dann meldete sich ein Fuss mit Schmerzen. "Alles, alles geht vorbei", zum Glück.
 
In Lyss trafen wir auf unsere Velo-Begleiter. Jean-François‘ Sohn machte es geschickter und wartete oben nach der Steigung. Mägi kam nach einem Kaltstart recht ins Schwitzen. Wir nahmen die Steigung locker joggend. Es lief sehr gut. Trotz Steigung hatten wir nach mehr als 25 Kilometern die Pace im Griff: 06:30 wie geplant.
 
Phase 2: der Magen rebelliert
Doch dann nach Oberramsern bei km38, nach interessanten Gesprächen mit einer Ärztin aus Bern (dann muss es ja gesund sein, wenn selbst Ärztinnen und Ärzte Ultras laufen), meldete sich der altbekannte und teuflisch grinsende Schwindel.
 
Meine neue Verpflegungstaktik war also nicht aufgegangen:
-          Ich hatte wenig gegessen im Vorfeld und nur Bewährtes
-          Ich nahm regelmässig Gels zu mir und trank immer Wasser
-          dazu gab es Datteln und gesalzene Nüsse
-          An den Stationen beschränkte ich mich auf Wasser und Bouillon
 
 
Ich musste nach der Marathondistanz Jean-François ziehen lassen und lief langsamer und machte Gehpausen.
 
Phase 3: es läuft wieder
Nach etwa einer halben Stunde lief es wieder besser, ich hatte das erste Mal Cola getrunken



und ich lief zügig bis nach Kirchberg bei km56.
 
Jetzt war ich müde und ich wäre gerne wie letztes Jahr zu den Sanitätern gegangen. Wie schön wäre das gewesen, sich von hilfreichen Geistern bedienen und bemittleiden zu lassen.
 
Doch nichts da. Schliesslich wollte ich unter 11 Stunden im Ziel sein. Ich montierte die Stirnlampe und lief nach einer kurzen Pause torkelnd ohne Mägi los.
 
Phase 4: Kampf
Meist weckt es meine Geister: Trailrunning ist ja mein Ding. Doch dieses Jahr blieb der Pfad ein Kampf:
Anlaufen, wieder Gehpausen, verschnaufen, anlaufen, erschöpft kurz anhalten, anlaufen.

Ich war überglücklich, Mägi wieder begrüssen zu können, ab der Stelle, wo die Velo-Begleiter wieder zugelassen sind.
 
Nur schon meiner Frau zuliebe, lief ich nun zügiger. Ich wollte nicht, dass sie vom Velo runterfiel, weil wir so langsam unterwegs waren.

Ich litt, hatte immer wieder Schwäche- und Schwindelanfälle und ich frag mich in solchen Phasen, warum ich mir das antue. Warum alle sich das antun? Denn wenn ich rumgeschaut hatte, war selten ein rundlaufender, glücklicher Mensch zu sehen. Viele marschierten jetzt drauf los.
 
Zum Glück sind das aber nur Phasen, die sich abwechseln mit Zeiten, wo es wieder besser geht, nicht gut, aber besser.
 
Vor der 75er Tafel gab es eine unwillkommene Umleitung, weg von der Strasse in den Wald und dort noch einen Hügel hinauf. Ein Umweg, der mindestens 10 Minuten Zeitverlust (wenigstens für die, die so langsam unterwegs waren wie ich) bedeutete gegenüber der Originalstrecke


 
Ich hielt mich nun mit Cola und Salzstengel über Wasser.
Zucker und Salz, die Infusion, die auch laufend eingenommen werden kann.

Es war friedlich, wie die Welt nur am morgen früh sein kann und so unglaublich schön, dass wir privilegiert sind, hier zu hause zu sein.

 
 
 
In Büren, so bei km87, habe ich ausnahmsweise die Stühle links liegen gelassen. Das Ziel von 11 Stunden war nicht mehr erreichbar, doch ich hatte bereits ein neues. Vor 11 Stunden und 40 Minuten eintreffen, damit die 700 Minuten Marke unterbieten und damit beim Schnitt eine sechs vorne dran, egal wenn es dann 6:59 sind.
 
In Büren traf ich auf die Frau und den Sohn von Jean-François. Ich fragte sie, wie schnell ich laufen muss, um ihn einzuholen. Ich konnte es kaum glauben, als sie sagten, dass er noch nicht durchgekommen ist in Büren. Nach einer Krise auf dem Damm musste er eine Pause einlegen.
 
Phase 5: Im Rennen angekommen
Ab der 90er Tafel kamen meine Kräfte zurück, ich fühlte mich wieder richtig gut. Jetzt wusste ich auch wieder, wieso ich mir das antue. Ich war im Runner’s High. Und das fühlte sich verdammt gut an. War auch hart verdient. Bei km90 war ich im Rennen angekommen.
Ich musste zwischendurch kurze Gehpausen, drei, vier Schritte, einlegen, aber sonst ging es flott im 6er Schnitt voran.
 
Ich lief auf zwei Läufer auf, die im Gehschritt unterwegs waren.
 
Als kleiner Exkurs: im Schweizerdeutschen ist das so schwierig mit dem Verb laufen, was beides bedeuten kann, rennen und Gehen. Deshalb nehmen wir gerne das englische Wort joggen.
 
Jedenfalls sprach ich die beiden an, ob sie nicht mit mir joggen wollten bis ins Ziel. Einer davon, Lukas, nahm das Angebot an und auf den letzten 5 Kilometern waren wir sogar deutlich unter 6 Minuten pro Kilometer unterwegs.
 
 
Hier mein Eintrag im Facebook:
 
 
Das machte nun richtig Spass, mit Lukas in hohem Tempo dem Ziel entgegen zu fliegen und dabei viele Läufer überholen zu können, die ich immer wieder unterwegs angetroffen hatte.

 
 
Seit Kirchberg plagte mich eine Blase an einem Zeh. Doch so richtig stören, tat sie erst auf den letzten zwei Kilometer. Aber da hielt mich nichts mehr zurück.
 
Phase 6: angekommen
Am Ziel mag ich nichts mehr trinken und nichts mehr essen. Nur noch sitzen und runterkommen. Und auf meine Leidensgenossen zu warten.

Kurz nach mir kommt Chrigel ins Ziel, ein Bekannter von Giverola, knapp danach Stefan und Peter Schmid, den ich ebenfalls vom Irontrail kenne.

Jean-François erreichte nach 12 Stunden das Ziel und ist voller Pläne für das nächste Jahr.


Marc hatte ebenfalls eine Krise, als hätten sie ihm den Stecker gezogen, schaffte es aber ebenfalls mit 12 Stunden und einigen Minuten.

Gianni's Plan war auch dieses Jahr nicht aufgegangen, mit 14 Stunden wird er gelitten haben und enttäuscht sein.

Carmela hat bis zur ersten Teilstrecke geschafft. Und Hansjörg hat das einzig richtige gemacht und den Lauf am längsten genossen.

Der Sanitätsposten war in der Turnhalle nicht im oberen Stock, nein, im obersten Stock. Lift hatte ich keinen gesehen. Ich liess die Blase am Zeh einpacken und mit dem Velo fuhr ich zurück zum Parkplatz bei der Badi in Nidau.
 
Unterwegs kauften wir uns noch eine Wassermelone und danach begann das Wochenende.
 
Die Begegnungen mit Gleichgesinnten (oder Gleichgestörten), die Stimmung in der Nacht, die Dunkelheit, das Licht der Stirn- und Velolampen, die Stille, die Feuerungsanrufe der Zuschauer, das Erwachen der Vögel am Damm, die Freundlichkeit und Hilfsbereitschaft der Leute an den Stationen, das sehr schöne T-Shirt, die Medaille, die Verpflegung.
 
In Biel stimmt alles.

Und wenn dann noch die beste aller Ehefrauen dazukommt und einem die ganze Nacht während einer solchen Narretei unterstützt, dann ist es unmöglich, sich glücklicher zu fühlen.